Kaum war mein Navi in Menschengestalt nicht mehr bei mir, hab ich den Radweg aus den Augen verloren und bin stundenlang parallel zur Autobahn nach Berlin gefahren. Ich wünschte mir, dass jemand den Lärm abstellen würde oder sie einfach mal kurz anhalten würden, damit meine Ohren Pause haben. Dieses Gefühl sollte die nächsten Tage bleiben, denn nach der Autobahn kam der Stadtverkehr und auf dem Zeltplatz der Fluglärm, denn gefühlt lag ich auf der Tegeler Rollbahn.
Ich kam am 15. Mai in Berlin an, baute noch alles auf und sah mich um, als dann am 16. Mai der Regen einsetzte und ich feststellte, dass ich am Tag davor meine Regenjacke verloren habe. Ich kam dann auf die glorreiche Idee, die Autobahn wieder zurückzufahren, zu dem Punkt, an dem ich meine Regenjacke vermutete (also fast wieder in Potsdam). Nach 32 km, die ich umsaonst gefahren bin war ich komplett durchnässt und sah mich die nächsten Tage mit Schnupfen im Zelt sitzen. Dem war zum Glück nicht so. Meine Freundin fragt mich jeden Tag, was mein heutiger Tiefpunkt war und an dem Tag war meine Antwort: heute!
Am Freitag, 17. Mai, bin ich schon früh aus dem Schlafsack gerollt, was zum einen am Sonnenschein, zum anderen an meinem anstehenden Termin lag. Früh morgens bin ich in den Waschsalon, um meine Wäsche mal zu waschen und vor allem zu trocknen. Nebenbei saß ich am PC und hab den Text von Frau Vogler geschrieben. Dann ging’s los.
Ich hatte meinen Termin bei Andreas Westerfellhaus im Gesundheitsministerium und weil ich gut vorbereitet sein wollte (und ja auch kein Navi oder ähnliches hab) hab ich am Tag zuvor extra die Adresse rausgeschrieben und mir den Weg dorthin eingeprägt. Zwanzig Minuten vor dem Termin stand ich in der Friedrichstraße 108 und ging geflasht durch die Glastür. In meinen Gedanken formulierte ich schon die Frage, ob ich Fotos machen dürfte, da rief mich der Pförtner zurück und fragte, zu wem ich denn wolle. Es gab natürlich einen zweiten Sitz vom BGM, zwei U-Bahnstationen weiter in der Mohrenstraße 62. Ich wieder zu U-Bahn, nun nicht mehr ganz so gechillt. In der Mohrenstraße bin ich prompt in die falsche Richtung gelaufen. Es gibt ja auch gar keine Hausnummern mehr. In der Straße war auch das Hilton und ähnliche pompöse Häuser, die haben nun mal keine Hausnummern. Mich an nationale oder europäische Flaggen zu orientieren, war auch kein guter Einfall, denn die hingen auch überall (wie gesagt: Hilton). Punkt um 12 stand ich dann ziemlich abgehetzt und durchgeschwitzt vor der Pförtnerin in der Mohrenstraße 62. Dann schnell aklimatisieren, Interview führen, Foto machen, frühstücken, Feierabend.
Der Rest war Freizeit.
An dieser Stelle hätt ich auch all meine Selfis von den großen Orten in Berlin hochladen können. Doch das wird meinen Eindrücken nicht gerecht. Ich weiß nicht, ob es das Älterwerden ist oder unsere gesellschaftliche Entwicklung, aber die Erinnerungsorte der Mauer, das Denkmal für die ermordeten Juden Europas, dann das offene und freie Brankenburger Tor oder auch nur der Bundestag: Ich bin so überwältigt von diesen Orten und von der Geschichte, dass mir ganz schlecht wird, wenn ich daran denke, dass es (laute) Menschen gibt, die das alles leugnen oder sich gar bestimmte Verhältnisse zurück wünschen.
Eine echte Entdeckung für mich war der Raum der Stille direkt unten im Brandenburger Tor. Ich war eine Weile an diesem wirklich ruhigen und erholsamen Ort. Wie sehr mich der Trubel da draußen stresste, hörte ich da drin. In meinem Kopf fiebten die Geräusche noch lange nach.
Wie bereits schon einmal ging ich voller Elan auf den Bundestag zu und wollte diesmal wirklich auf die Kuppel. Wie bereits beim letzten Mal hab ich vergessen, dass man sich vorher anmelden muss. Zu blöd. Dass ich mir das nicht merken kann. Ich bin zu spontan für unsere Demokratie. Also auch diesmal wieder nur von außen.
Direkt vor dem Gebäude stand ein Info-Stand von Kritiker*innen, die darüber aufklären, dass es Deutschland als Staat nicht gäbe, dass Deutschland nicht soverän sei, dass Faschisten weiterhin das dritte Reich aufrecht hielten, dass Deutschland…. ach, ich hab mir nicht alles gemerkt. Das finde ich großartig. Also nicht das, was auf dem Banner steht, sondern dass der Info-Stand direkt vor dem Bundestag stehen kann. Bei allem, was hier kritisiert werden kann, aber DAS ist ein Wert, der mich beruhigt schlafen lässt. Meinungsfreiheit.
Am Abend ging das politische Programm weiter. Ich war mit auf der queer-politischen Dampferfahrt in Reinickendorf. Dazu wurde ich von Dennis Wendländer eingeladen, den ich auf dem Pflegetag in Berlin kennengelernt hab und der mich in seine Schule für einen Vortrag zu queeren Themen in der Pflege engagiert hat. Er hat uns den besten Platz des Abends (an der Spitze des Schiffes) organisiert und wir hatten einen wirklich guten Abend zusammen. Die queerpolitische Dampferfahrt selbst war eine lokale Wahlkampfveranstaltung, organisiert von den Grünen, der Linken, SPD und FDP. Von der CDU saßen queere Parteileute im Publikum. Leider ist nicht alles queer, wo queer draufsteht. 90% der anwesenden Personen hab ich als cis-männlich gelesen und die Themen drehten sich hauptsächlich um schwule und ein bisschen um lesbische Belange. Nur kurz wurde erwähnt, dass die eigentliche Aufgabe nun darin bestehe, gleiche Rechte für trans* und inter* Personen zu erstreiten. Allerdings war trans* und inter* nicht sichtbar. Also nicht in Form von Flaggen, Flyern oder Interessenvertretungen. Dafür wurden zu meinem Ärgernis alte Schubladen wieder neu befüllt, denn der Moderator zweifelte die Homosexualität eines befreundeten Paares an, das am Tag des Eurovision Song Contest heiratet und diesen nicht über eine Leinwand live ausstrahlt. Mein queer sieht jedenfalls anders aus.
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vier tage Berlin huh? Soso 🙂
(Lese fleißig mit)
Hey Stephan,
ja Berlin, allerdings mit hohem Arbeitspensum. Danke fürs Begleiten und Kommentieren. Bald kommt mein MV-Beitrag, könnte dir auch gefallen. Erkennst bestimmt einiges wieder 😉
Liebe Grüße
Katrin