Teil 2: Vom Arbeiten in der Schweiz

Und der Gedanke mit dem Pädagogikstudium wuchs in mir und damals war so der Klassiker Humbold-Uni Berlin. Ich habe eine Bewerbung hingeschrieben, aber ich hatte mein Abschlusszeugnis noch nicht. Die Abgabefrist war vor der Zeugnisausgabe und die Schule ließ nicht mit sich reden, um mir das Zeugnis vorher auszustellen und die HU hat gesagt „dann tut‘s uns leid. Dann ist das so.“ Ich hab mich tierisch geärgert.

Das war ja auch so eine schwere Zeit für die Stellensuche und es kamen sogar Kliniken aus Süddeutschland, die sich vorgestellt haben oder die unsere Schüler dazu bewegen wollten, Dresden zu verlassen und in deren Kliniken zu kommen. Zu der Zeit sind meine Eltern beruflich bedingt nach Süddeutschland gezogen und da kam meine Mutter auf die Idee, dass ich mir in der Freiburger Ecke was suchen könnte. Und die Schweiz sei ja auch nicht weit. Schweiz, oh Gott. Die verstehste ja nicht. Naja, ich hab mich trotzdem mal erkundigt und bin auf Luzern gestoßen. Das war ein großes Haus, nette Umgebung, drumherum Berge. Das passte, weil ich ja in der Freizeit auch gern draußen bin. Da dachte ich mir, schreibst einfach mal eine ganz allgemeine Bewerbung an die Klinik. Ich wurde dann angerufen von einer Frau mit einem Schweizer Hochdeutsch, was für uns ja ganz und gar nicht nach Hochdeutsch klingt. Aber sie hat mich dann am Telefon gefragt, wann es mir passen würde, mich vorzustellen. Schon diese Frage. Sie haben sich wirklich nach mir gerichtet. Sie hätten eine Stelle in der Gynäkologie für mich gehabt, wo ich doch schon in der Ausbildung dachte, Gyn geht gar nicht. Ich hab das ja auch nur so kennengelernt „Bauch auf, Gebärmutter raus, Bauch zu.“ Das war‘s. Das waren meine Kenntnisse zur Gynäkologie. Dann haben sie mich dorthin zum Bewerbungsgespräch eingeladen und alles war schön. Schöne Berge, schöne Klinik und sie haben sich gekümmert.Wie im Traum. Für unsere Verhältnisse völlig absurd. Und die Stellen waren fünfundzwanzig-Stunden-Stellen. Welcher junge Mensch will nur fünfundzwanzig Stunden arbeiten? Ich sollte dann zum Probearbeiten auf die Station kommen, aber in der Einladung stand zehn oder elf Uhr. Ich kam dann dahin und der Pflegedienstleiter – ein ganz netter Mensch – kam auf mich zu und sagte „schön, dass Sie da sind, aber wir haben Sie eigentlich heute Morgen um sieben erwartet“. Ich dachte das war‘s und wollte gleich wieder nach Hause fahren. Da sagte er, „nee nee, keine Sorge, wir haben eine neue Sekretärin, die hat das wohl missverstanden. Kein Problem, dann führen wir erst das Gespräch und Sie gehen danach auf die Station.“

Auf der Station begrüßte mich die Stationsleitung, war aber gerade im Gespräch und nahm die Telefonnummer von einem Angehörigen entgegen. Ich stand im Dienstzimmer und hörte diese Zahlen und habe nichts verstanden. Er sagte was von „drününzgt-sechünfüfzgt-fühachtz“. Irgendwie so. Ich habe absolut nichts verstanden und hab nur freundlich genickt und sie haben mit mir ja auch Schweizer Hochdeutsch gesprochen, so dass ich wenigstens ein bisschen was verstehen konnte.

Ich hab unmittelbar danach Post bekommen, dass sie sich freuen würden, wenn ich dann und dann anfangen könnte. Ich dachte, wow, die wollen mich wirklich. Das war ja total einfach. Eine Bewerbung und genommen werden.

Ich hab dann in der Schweiz angefangen und dachte an ein Jahr, also an ein Überbrückungsjahr. Aber aus diesem Jahr sind dann vier Jahre geworden, weil‘s einfach so toll war. Es war die beste Zeit und die lehrreichste Zeit meines Lebens. Ich hatte ein tolles Team und ein ganz interessantes Fachgebiet. Ich lernte, dass Gynäkologie eben nicht nur Gebärmutterherausschneiden war, sondern dort fanden komplexe viszeralchirurgische Operationen statt mit Aufbauplastiken. Es gab IVF, also invitro fertilization, Abtreibungen, also alles. Proktologie und plastische Chirurgie kamen noch dazu und Traumatologie kam am Ende auch noch dazu. Ein Rundumpaket. Besser hätte ich es nicht treffen können, weil ich aus diesen persönlichen Erfahrungen auch für meine jetzige Tätigkeit als Lehrerin sehr viel mitnehmen konnte und viel erzählen kann, indem ich es exemplarisch untermauern kann. Dann ist das für die Schüler – also sie sind dann immer ganz erstaunt und sagen, „ach, das durften Sie machen, durftest DU machen?“ Sie sagen „Du“. Für mich war das ja völlig normal. Wenn man das nach Patricia Benner mit den Kompetenzstufen betrachtet, dann ist man ja nach der Ausbildung totaler Anfänger. Du denkst, du kannst die Welt einreißen und bist jetzt fertig. Aber du bist totaler Anfänger, weil dieses ganze Rundumgeschäft, was da noch im Hintergrund administrativ und organisatorisch läuft, kriegst du ja als Schüler gar nicht mit. Du bist fokussiert und hast deine Scheuklappen auf.

Auf der Station hab ich enorm meine Kompetenzen erweitert. Onkologie ist ja auch noch mal so ein Thema. Wir haben da unsere Chemotherapeutika selbst zusammengerührt. Das war dort so. Wir hatten eine Einweisung, dann haben wir das gemacht. Ich hab das nie als total gefährlich oder wie soll ich sagen, als, ich kann das gar nicht beschreiben. Das hat nun mal dazugehört. Ich bin mit jeder Tätigkeit gewachsen. Auch im Kontakt mit den Patienten. Der schwierige Patient. Was ist ein schwieriger Patient? Da geht es ja schon los. Häufig war es so, dass man das Gefühl hatte – und zum Teil ist es ja noch heute so – dass sie gar nicht selbst entscheiden können. Sie haben Angst oder sind von der Kliniksituation so überfordert. Ich habe dort so mein Gespür oder Empathie, also eine soziale Kompetenz weiterentwickelt. Gerade so onkologische Patienten.

Die Schwestern Klee, die sehe ich noch vor mir. Das waren Zwillinge mit Ovarialkarzinom und sind radikal operiert worden und haben auch noch ein Mamma-Ca und Lymphödeme gehabt. Sie erhielten Chemo und Aufbauplastik. Alles. Das waren onkologische Geschichten. Lebensgeschichten. Zwillinge auch noch, die das gleiche Schicksal traf. Eine Schwester ist bei uns auch noch verstorben. Ich sehe sie noch heute vor mir, wie sie in dem Zimmer war. Sie konnte kaum noch aufstehen, aber das Rauchen hatte noch funktioniert. Es gab absolutes Rauchverbot, aber wir dachten auch, warum sollten wir das jemanden in so einer Situation nicht gönnen? Da haben wir alles möglich gemacht, um diesen Lebensabschnitt dort, so positiv und normal, wie möglich zu Ende zu bringen. Das war dann schon palliativ, keine Frage. Als sie dann verstarb, kam kurze Zeit später ihre Schwester zu uns auf die Station, die dann wünschte, nicht in das Zimmer, in der ihre Schwester starb, zu gehen. Jeder kannte die.

Das Team auf der Station war riesig mit über vierzig Pflegekräften, die aber miteinander verbunden waren. Und auch in den Abläufen waren sie so standardisiert, dass du nicht diese Nebenschauplätze hast, wo du dich um eine falsche Dokumentation oder abgebrochen Kommunikationsketten kümmern musst. Alles hat ineinander gegriffen und wir konnten uns auf das Wesentliche konzentrieren. Auf die individuelle Pflege. Das ist ja das, was wir als Lehrer versuchen, den Schülern beizubringen und mit auf den Weg zugeben. Und das hat dort vor Ort funktioniert. Es gab auch einen Austausch über persönliche Befindlichkeiten. Es gab dort Bereichspflege, die konsequent durchgeführt wurde. Da hab ich wirklich sieben Tage lang eine feste Patientengruppe betreut, konnte aber auch tauschen, wenn mir ein Patient zu viel wurde oder eine Situation zu belastend war oder wenn ich gemerkt habe, dass ich an eine Überforderungsgrenze gelange. Es gab dort eine grundsätzlich positive Stimmung im Team.

Kurz nach meinem Start dort hab ich die praktische Anleitung der Schüler übernommen, weil ich von den Kollegen und von den Schülern gefragt wurde, ob ich das nicht machen könnte, weil sie so viel von mir lernen würden. Da hab ich mich dann wieder in der Pädagogik gesehen und bin zu diversen Weiterbildungsmaßnahmen gegangen, aber das hatte nie diesen ganz intensiven pädagogischen Charakter gehabt.

Das, was hier Praxisanleiter heißt, ist dort der Lehrmeister und irgendwie hat mir das nicht gereicht. Dann hab ich überlegt, ob ich studieren soll oder nicht. Ich hätte auch in der Schweiz ein Begleitstudium belegen können, aber allein die Semesterbeiträge hätten meinen Verdienst völlig überschritten und wäre für mich nicht finanzierbar gewesen. Und die zweite Frage, die ich mir stellte, war, wie ich mit diesem Abschluss dann in Deutschland arbeiten könnte. Ich wollte mich nie auf die Schweiz fixieren.

Der Freundeskreis dort bestand ausschließlich aus Deutschen, die fast zeitgleich mit mir dort hingegangen sind.Unsere Etage im Wohnheim war meine Ersatzfamilie. Das war schön. Dadurch hat sich das alles auch so positiv entwickelt und ich hatte nie Heimweh. In der Zeit hab ich die Pädagogik auch nicht vermisst, sondern eher aus den Augen verloren. Ersatzfamilie passt da ganz gut und die Freunde, die ich bis heute noch so habe, können das auch bestätigen.Wir kamen alle aus Sachsen. Ich hab gutes Geld verdient, das konnte ich ja gar nicht alles ausgeben. Wir haben zusammen Trekkingtouren in Nepal gemacht davon. Wir haben alles mitgenommen, was man so konnte. Zu Hause hätte ich bei weitem nicht so viel verdient und wäre bei weitem nicht so glücklich gewesen.

Ich bin dann schweren Herzens zu meinem Pflegedienstleiter gegangen und hab gesagt, dass ich gehen werde, dass ich aber auch sehr gern dort arbeitete. Mein Vater ist in der Zeit schwer verunglückt mit einem Verkehrsunfall mit in Folge einer Halbseitenlähmung. Alle waren zu Hause und als mein Vater aus dem Koma aufgewacht war, war ich bei ihm und als erstes sagte er „ach mein Spatz, schön, dass du da bist.“ Das war das erste, was er zu mir gesagt hat. Das werd ich nie vergessen. In dem Augenblick hab ich zu ihm gesagt „Ich komm zurück“.

Es war keine leichte Entscheidung. Das Für und Wider. Auf der einen Seite meine Familie und auf der anderen Seite die Arbeit, die mir echt Spaß machte und in der ich mich wirklich wohl fühlte.

Irgendwann war es trotzdem an der Zeit, die Zelte abzubrechen.

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