Teil 1: Ich habe zu viele Fragen gestellt

Ich habe mich im Vorfeld wenig mit der Pflege auseinander gesetzt. Anders als meine Schülerinnen und Schüler, die sich schnell mit dem Begriff Krankenschwester oder -pfleger identifizieren. Aus meiner Familie gab es niemanden, der im sozialen Bereich tätig war und in der achten Klasse ging es dann darum, welche Berufswahl wir anstreben. Da sagte eine Lehrerin „Ja und Sie, Sie wollen doch bestimmt so einen typischen Frauenberuf erlernen. Wie Krankenschwester.“ Und da hab ich gesagt „Nie im Leben werde ich Krankenschwester.“ Da hatte ich noch dieses klassische Bild mit Häubchen und Kassack vor Augen und dachte auch sofort an Exkremente. Das ging überhaupt nicht. Da hatte ich das für mich abgehakt.

Nach dem Abitur war ich völlig planlos und hab mich dann eher an meinen Eltern orientiert. Meine Mutter ist Juristin und mein Vater Chemiker und ich konnte mir einen klassischen Verwaltungsberuf vorstellen. Glücklicherweise – also im Nachgang sage ich glücklicherweise – hat es mit den ganzen Bewerbungen nicht geklappt, weil achtundneunzig waren die Ausbildungsstellen nicht so reichlich, wie das heute ist. Und dann hatte meine Mutter gesagt „wenn du unschlüssig bist, dann mach doch ein soziales Jahr“. Als soziales Jahr ist mir dann nur das Krankenhaus eingefallen und über Kontakte meiner Mutter hab ich in einem eher kleinen Krankenhaus der Grundversorgung auf einer Intensivstation angefangen.

Ich hatte dort meinen ersten Kontakt mit schwerst kranken Menschen, die komatös, ödematös und völlig entstellt waren. Für mich damals hatten diese Menschen keine Ähnlichkeit mit etwas Lebendigem und ich war geschockt in dieser Situation, die mich handlungsunfähig machte. Das sollst du ein Jahr lang machen? Ich hatte dort eine ganz clevere Pflegekraft an meiner Seite, die mich einfach mit einspann und sagte „Dorit, hilf mir mal, halte mal dort die Patientin“. Diese Patientin war stark unterkühlt, aufgeschwemmt, intubiert, mit ZVK und Salbenresten im Auge und ich dachte „ohgottohgott. Oh Gott“. Das war nicht meins. Nach dem ersten Tag wusste ich nicht, wie ich ein Jahr überstehen sollte. Das Team in der Klinik war stark und kommunikativ und empathisch und sympathisch und das hat mir total geholfen mit dieser ersten negativen Erfahrung zurecht zu kommen. Dann hatte ich so klassische Aufgaben wie Schieberspüle reinigen, putzen und Frühstück vorbereiten, so dass ich am Anfang doch eher aus der Pflege herausgenommen worden bin.

Nach und nach hab ich mich aber immer mehr dafür interessiert, was die eigentlichen Aufgaben in der Pflege sind und das Team war sehr willig, es mir zu zeigen und so wurde ich Schritt für Schritt herangeführt. Ich hab die Hemmungen verloren und gemerkt „Ja, genau das willst du machen“. Im Nachgang merke ich immer wieder, dass alles mit dem Team steht und fällt. Jedenfalls ist das Jahr noch gut vorbeigegangen und in dem Klinikum hab ich mich dann auch für die Ausbildung beworben. Zum Bewerbungsgespräch bin ich in Dienstkleidung während des Dienstes gegangen und mir war völlig klar, dass sie mich nehmen. „Wir nehmen Sie. Sie haben ja auch ein gutes Zeugnis von der Station erhalten, sind interessiert und fleißig“.

Zur Ausbildung war ich sehr motiviert und der erste Einsatz war eine Langzeiteinrichtung. Das hat mir auch richtig gut gefallen, obwohl es was ganz anderes als die Intensivstation war.

Bei meinem zweiten Einsatz hab ich gezweifelt, ob ich da wirklich richtig bin. Den Praxiseinsatz in der Inneren hab ich für mich gut bewältigt und am Ende die Note drei bekommen. Ich hab dann nachgefragt, warum ich diese Note erhalten habe und die Antwort war, dass ich zu viel fragen würde. Das irritierte mich und ich sagte, dass es doch zum Lernen dazugehöre, auch Fragen zu stellen. Sie entgegneten mir dann, dass ich ja ein Jahr lang auf der Intensivstation war und wissen müsste, wie Insulin wirke. Mich interessierten die Unterschiede zwischen Langzeit- und Kurzzeitinsulin und das war eine internistische Station und ich immer noch im ersten Ausbildungsjahr. Dass ich zu viel fragen würde und deshalb eine schlechte Note bekam, war für mich nicht in Ordnung. Ich bin zu meiner Ausbilderin gegangen, die mir dann sagte, dass ich das nicht persönlich nehmen sollte. Aber natürlich hab ich das persönlich genommen. Auf einer anderen – diesmal chirurgischen – Station bekam ich die gleiche Rückmeldung. Das war ein Team, die vom Altersdurchschnitt wesentlich älter waren als auf einer Intensivstation. Da waren noch viele Kollegen von der alten Schule, die der Meinung waren, wir Auszubildenden müssten machen, was sie sagen – ohne nachzudenken. Das frustrierte mich. Es gab auch die Gepflogenheit, dass am Frühstückstisch die Stationsleitung am vorderen Kopfende saß und je nach Hierarchiestufe reihten sich dann die Kolleginnen an der Tafel nach hinten auf. Und ganz am Ende saßen die Schüler des ersten Ausbildungsjahres. Selbst die Praktikanten saßen vor den Schülern. Wenn es klingelte, wurde von hinten nach vorn aufgestanden.

Ignoranz ist ja auch so ein Mittel, womit man fehlende Wertschätzung vermittelt bzw. seine Position klar dargelegt bekommt. Statt bei der Übergabe dabei sein zu können, mussten wir Temperaturen messen, Blutdruckrunde machen, die Schieberspüle reinigen oder Binden auffüllen. Von dem Stationsleben, den Krankheitsbildern oder der eigentlichen Aufgabe der Pflegenden haben wir nichts mitbekommen. Mein Einsatz in der Gynäkologie war mein schlimmster Einsatz, weil ich dort nichts gelernt habe außer diese zusätzlichen Tätigkeiten. Heute kann ich drüber lachen, aber früher war das sehr demotivierend, weil ich ganz andere Vorstellungen von diesem Beruf hatte. Klar lernten wir was zu hygienischem Verhalten, aber was unsere berufliche Handlungskompetenz betraf, lernten wir nichts. Das zog sich durch die gesamte Ausbildung – zumindest, was den praktischen Bereich betraf.

In der Theorie war es um so besser. Da hatte ich ganz tolle Lehrer. Meine damalige Anatomielehrerin ist heute meine Kollegin und stellvertretende Schulleitung. Sie war eine Erscheinung und hat den Unterricht sehr anschaulich gestaltet. Zum Beispiel den Urogenitaltrakt der Frau. Sie stand vor uns mit ausgebreitetes Armen und abgeknickten Händen und sagte, „stellen Sie sich vor, ich bin ein Uterus“. Das weiß ich noch ganz genau. Sie war meine Klassenlehrerin und während der Ausbildung sagte sie „Dorit, wolln Sie ni Lehrerin werden?“ Ich sagte, „Lehrer, nee.“ Das hakte ich für mich ab, aber dieser Gedanke ließ mich nie los. Im letzten Ausbildungsjahr wuchs und reifte der Gedanke, Anatomielehrerin zu sein. Das war zumindest das prägnanteste. Es gab natürlich auch Wirtschaftslehre, Rehabilitation und sowas.

Ich hab als Pflegelehrerin auch schon mal eine Schülerin gefragt, ob sie nicht Lust darauf hätte, in die Ausbildung zu gehen. Das vor ungefähr vor einem halben Jahr. Das war eine gute Schülerin, sehr empathisch mit hoher fachlicher Kompetenz und sozial toll integriert. Methodisch toll, von Handlungsalternativen geprägt. Und sie fragte ich dann „was meinst du, wär da ni was für dich? Also ich kann mir total gut vorstellen, wenn du Lehrer wärst.“ „Ich? Puh, ja vielleicht“ hat sie dann gesagt. Vielleicht hab ich bei ihr jetzt auch diesen Gedanken gepflanzt. Mal gucken. Dass sie das nicht so grundlegend abgelehnt hat, das hat mich gefreut.

Die Prüfung gestaltete sich dann so, da hatten wir das Glück, dass wir uns unsere Prüfungsstation selbst aussuchen konnten, was in einem Wald- und Wiesenkrankenhaus bedeute, sich zwischen wenigen Stationen zu entscheiden. Es gab Chirurgie, Innere, Intensivstation und eine urologische Station. Pro Station durften nur zwei Prüflinge hin und wir sollten uns melden, zu welcher wir gehen möchten. Auf die Intensivstation wollten drei Azubis hin und so wurde gelost, wobei ich die Niete zog. Bis auf die Innere, auf der ich zu Beginn meinen ersten Faupax erlebte, waren alle anderen Stationen schon vergeben. Ich hab gesagt, wenn ich die Intensivstation schon nicht bekomme, dann will ich wenigstens auf die Urologie. Aber das ging auch nicht. Ich bin heulend nach Hause und wusste nicht, wie ich das letzte halbe Jahr dort überstehen sollte. Ich hab das Beste aus meiner Prüfungsvorbereitung auf der Inneren gemacht und ich wurde selbstständiger und habe mir meine eigene Patientengruppen, die ich betreuen wollte, eingefordert.

Zur Bekanntgabe der Prüfungstermine hatte ich das Pech, nicht anwesend zu sein. Somit blieb der erste Termin übrig. Aber so war es nun mal und es lief auch super und dann kam die Notenbekanntgabe. „Dorit, herzlichen Glückwunsch, Du hast bestanden mit der Note zwei. Es wäre och ne Note eins geworden, aber wissense, Sie sind die erste Prüfungsschülerin und da waren no n baar Gleinigkeiten. Nee, wir geben Ihnen ne zwei.“ Ich hab gedacht, was? Nur weil ich die erste war? Und eigentlich hätte es für eine Eins gereicht, denn fünfundneunzig Prozent reichen für eine Eins, aber vielleicht waren es vierundneunzigkommaneun. Wer weiß. Also da hatte ich wieder Pech. Ja, heute fragt keiner danach, aber in dem Moment war es wichtig. Aber gut. Haken dahinter. Die anderen Prüfungen liefen alle gut.

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