Schlimmste Fahrt bis jetzt

Von Rerik ging es weiter – Richtung Süden, Richtung Familie. Ich wollte meinen Opa besuchen, denn von ihm wollte ich erfahren, wie meine Oma als Gemeindeschwester gearbeitet und gelebt hat.

Doch so einfach war das nicht, denn er wohnt nicht an einem superduper ausgebauten EU-Radweg, sondern irgendwo in Mecklenburg. Ich suchte mir meine Route zusammen und wer hätte das gedacht, mein Pfad bestand dennoch aus vielen kleinen örtlichen Radrouten, so dass ich der offiziellen Beschilderung folgen könnte. Dachte ich.

Schilder waren mal mehr und mal weniger vorhanden, aber da wo sie mich hinführten, war alles Mögliche, nur kein Radweg. Zwischen Neubukow und Neukloster verlor ich mich zunächst auf einer Straße mit Kopfsteinpflaster, bei der das Mecklenburger Wetter aus Wind und Regen den Sand zwischen den tatsächlich kopfgroßen Steinen wegspülte. Da wo ich schieben konnte, schob ich und da wo ich nicht schieben konnte, schob ich auch. Es war mühselig. Das Kopfsteinpflaster hörte irgendwann auf und ich fuhr einen Feldweg zum nächsten Ort. Der Feldweg erinnerte mich sehr stark an den Sandstrand an der Küste. Ich träumte mich kurz zurück an die Küste, ans kühle Wasser, den weiten Blick und das frische Blau des Meeres, das sich im Himmel spiegelte und umgekehrt. Der Traum hielt nicht lange an, denn wie mit einem Hammerschlag wurde ich ins Hier und Jetzt zurückgeworfen. Ich rutschte immer wieder weg. Alles sandig, nix mit Fahren und der Weg nahm kein Ende.

Irgendwann sah ich was. Ein Ort? Ein Ort. Ich freute mich über die roten Dächer zwischen dem vielen Grün und schob etwas schneller. Wieder träumte ich. Diesmal von asphaltierten Straßen, Verkehrsschildern, die mir den Weg zeigten, und der frischen Brise Fahrtwind im Gesicht. Wieder ein Hammerschlag. Im Dorf gab es nur Kopfsteinpflaster mit Steinen so große wie… ach lassen wir das. Ich weiß auch gar nicht, ob das wirklich ein Ort war. Dort standen Häuser, es gab sogar eine Bushaltestelle, aber das war es auch schon. Ich schob auf eine Kreuzung zu. Es gab nur links oder rechts. Ich schob nach links, dabei verkeilte sich mein Rad mit dem Bordstein und fiel um. Ich war am Ende. Fertig. Ich schob weiter. Versuchte sogar ganz am Rand zu fahren, da wo der gepflasterte Weg auf Grasnarben traf. Doch leider war auch hier der Sand oft zu weich und zu tief, so dass ich wegrutschte. Der Weg führte in eine Sackgasse und der Blick auf die Karte verriet absolut gar nichts. Meine letzte Chance in solchen Momenten ist meine Freundin, die mich von zu Hause aus wieder hinaus navigieren würde. Doch ich war zu hoffnungsvoll und glaubte tatsächlich, dass der Ort ohne Straße oder Menschen mobiles Netz haben würde. Ich verzweifelte. „Hallo?“ rief ich zwei Mal ganz laut. Nichts. Als würde der Schall meiner Rufe zwischen den paar Häusern verschluckt und für immer eingefangen.

Tränen stiegen mir in die Augen und verwischten meinen Blick. Die Mecklenburgische Dorfromantik wollte nicht auf mich übergehen. Im Gegenteil, ich begann, sie zu verfluchen. Warum musste hier alles zwanzig bis hundert Jahre der echten Zeit hinterherhinken? Meine Augen konnten das Wasser nicht mehr halten und noch während ich den Weg zur rechten Seite versuchte und nach wenig-vielen hunderten von Metern und Stunden aus Feld- und Irrwegen und Kopfdingssteinen tatsächlich eine befestigte Straße fand, zeigten sich die Spuren meiner Verzweiflung und meiner Hilflosigkeit auf meinen Wangen. Da half auch mein sonst recht effektives Mantra „first world problems, first world problems“ nicht.

Was ich bisher noch nicht erwähnte, war die drückende Hitze, die sich bereits kurz nach dem Start dieser Tagestour auf den Feldern festsetzte. Die Luft presste mich und das Rad tief in den Boden und über uns formierten sich die gelb-orangenen Wolken zu einer einzigen grauen und tief hängenden Decke.

Meine Verzweiflung rührte auch daher, weil ich nicht glaubte, es an dem Tag noch bis zu meinem Opa zu schaffen. Ich brauchte für das erste Drittel der Strecke so lang, wie ich für die gesamte Strecke eingeplant hatte. Doch da war noch ein weiteres Mantra in meinem Kopf, viel subtiler, nicht hör- aber spürbar. „Einfach fahren.“ Stoisch fast, wie ferngesteuert fuhr ich einfach. Oben der weinende, leidende und erschöpfte Körper und unten der tretende und kraftvolle Körper.

Am Ende hab ich es doch noch geschafft. Fünf Kilometer vor dem Ortseingangsschild gröllten die Donner übers Land und hier und da sah ich Blitze. Mit geduktem Kopf und einem Turbogang in den Beinen versuchte ich dem Gewitter zu entkommen.

Als ich das Ortsschild vom Dorf meines Opas erreichte, durchfuhr ein elektrifizierendes Gefühl meinen Körper. Nein, das war natürlich kein Blitzschlag, es war die pure Erleichterung, dass ich es tatsächlich geschafft habe. Es war nicht meine längste Strecke, es gab auch keine nennenswerte Höhenmeter, ja nicht mal ein Unwetter und trotzdem war das mit Abstand meine schwierigste Fahrt bis jetzt.

Als ich auf dem Hof meines Opas fuhr, begann der Regen in dicken Tropfen auf die Erde zu platschen.

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